22 Apr Der Rotstift hat mich nicht gekriegt!
Herbst 1989. Ich war 10 Jahre alt. Mein erstes Hauptschuljahr. Als Einser-Volksschülerin war ich bis dato keinen Rotstift gewohnt. Das sollte sich in diesem Herbst ändern. Der erste Deutsch-Aufsatz – eine Erlebnisgeschichte – wurde zu einem Trauma. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Dem klassischen Spannungsaufbau galt es zu folgen: zuerst die Einleitung, gefolgt von der Hauptgeschichte, die in einem Höhepunkt mündet und mit einer Pointe bzw einer Zusammenfassung enden sollte. Das Thema das ich wählte war ein absolut unspannendes. Damals passierte in meinem Leben im beschaulichen Örtchen Poysdorf wirklich nicht viel aufregendes, da war die Welt noch in Ordnung. Ich hatte einen Ohrring verloren und ihn spektakulär wiedergefunden. Rundherum baute ich eine naja mehr oder weniger spannende Geschichte auf. Ich vermute die Geschichte war zum Gähnen. Aber in Rechtschreibung und Grammatik konnte man mir nichts vormachen – da war ich sattelfest. Es war sicher kein Thriller, aber es war ein solider Erlebnisaufsatz über eine wahre Begebenheit und so gab ich meine „oje ich habe meinen Ohrring verloren“ Geschichte ab.
Statt tintenblau kam rotstiftrot
Eine Woche später bekam ich das Heft retour. Auch wenn ich kein riesen Lob erwartete, so war die Überraschung groß, denn mein Aufsatz war nicht mehr tintenblau sondern rotstiftrot – und das bei mehr als der Hälfte meiner Satzkonkstrukte. Kein Beistrichfehler, kein Rechtschreibfehler und auch kein Grammatikfehler. Kein einziger. Nein. Ich konnte es nicht fassen. Was war passiert? Unendliche Korrekturen bei Formulierungen, andere Textbausteine und alternative Satzanfänge waren in engen Wortwürsten zwischen die Zeilen gekritzelt. Kein Satz blieb auf dem anderen. Mein kompletter Aufsatz wurde umformuliert. Mein Stil gefiel nicht. Heute könnte ich ganz einfach sagen – die Leserstatistik sagt etwas anderes – mein Stil gefällt. Aber damals brach eine Welt für mich zusammen. Offenbar konnte ich nicht schreiben. Keinen geraden Satz auf die Reihe bekommen. Jede meiner Formulierungen war es wert verbessert zu werden. Dieser Lehrer muss mindestens eine Stunde an der Korrektur gesessen haben. Es war ein Schock. Der Rotstift bestätigte meinen mangelnden Stil. Aber das war er nun Mal – mein Stil. Das Rotstift-Trauma beeinflusste mich so stark, dass ich jedesmal wenn ich das Wort Erlebnisaufsatz hörte in eine Schockstarre fiel und nicht mehr klar denken konnte. Wie formuliere richtig? Was mache ich falsch? Das waren die Gedanken, die mehr und mehr an meinem Selbstvertrauen nagten und mir auch jede Freude am Schreiben nahmen.
Alles eine Frage des Stils.
Doch dann kam die für mich glückliche Wende, ich bekam einen neuen Deutsch-Lehrer. Und der sollte mich genauso prägen, wie mich der Rotstift-Lehrer traumatisiert hatte. Neues Spiel. Neues Glück. Mein erster Aufsatz beim neuen Lehrer war ein Winner. Mein Stil wurde akzeptiert. Und verbessert, damit ich mich verbessern konnte. Tatsache war, ich durfte so bleiben wie ich bin. Was anderes wäre mir unmöglich gewesen. Vermutlich hätte ich nie wieder freiwillig auch nur einen Satz geschrieben, hätte sich das Rotstift-Trauma fortgesetzt. Doch das Schicksal meinte es gut mit mir. Es gab mir einen Lehrer, den ich brauchte. Streng war er und viel verlangt hat er auch. Aber soviel über die deutsche Sprache habe ich vermutlich nie wieder gelernt. Und ich durfte schreiben, wie ich will. Das Rotstift-Trauma hat mich nicht gekriegt. Ich schreibe immer noch!
Ich schreibe immer noch!
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